Pfr. Martin Dubberke

Volkes Stimme

Pilatus sprach zu ihnen: Was soll ich dann machen mit Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus? Sie sprachen alle: Lass ihn kreuzigen! Er aber sagte: Was hat er denn Böses getan? Sie schrien aber noch mehr: Lass ihn kreuzigen! Da aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern das Getümmel immer größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen; seht ihr zu!

Matthäus 27, 22-24

Ich weiß nicht, warum es so ist, dass einem manchmal Verse ins Auge stechen, die man sonst immer überlesen hat. So ging es mir heute bei der täglichen Bibellese.

Das Volk skandiert, dass Jesus wie ein Verbrecher gekreuzigt werden solle. Und als Pilatus fragte was dieser denn verbrochen habe, schrie das Volk noch lauter:

Lass ihn kreuzigen!

Pilatus scheint machtlos dagegen zu sein. Das Volk schreit nur noch lauter. Aber wer lauter schreit, ist noch lang nicht im Recht. Aber erleben wir nicht gerade in unserer Gesellschaft das gleiche?

Ich muss nur etwas behaupten, und es dann auch nur noch lauter sagen und über die vielen Wege der Medien immer weiter und immer lauter behaupten, bis immer mehr Leute glauben, dass es so ist, wie es behauptet wird, weil doch so viele das gleiche sagen und drucken und posten.

Nein, Wahrheit hat ihren Ursprung nicht in der Masse, sondern in der begründeten Wahrhaftigkeit. Und erst dann darf es auch gerne zur Masse werden.

Das Gefährliche aber daran ist, dass der, der es verhindern könnte aus falsch verstandener Liberalität, aus dem Willen zum Machterhalt, sich der Masse beugt, wie es Pilatus getan hat. Doch das ist der Moment, wo er die Macht verloren hat, weil er sich einmal der populistischen Masse gebeugt und sich damit schuldig gemacht hat. Und von dieser Schuld kann er sich nicht selbst reinwaschen, weil er es besser gewusst hat und, weil er gewusst hat, dass nur er allein es verhindern kann.

In dem Moment, wo man wie Pilatus der Menge nachgibt, hat man alle Autorität und Glaubwürdigkeit verloren und sich selbst zum Spielball der öffentlichen Meinung gemacht.

Standhaft zu bleiben, ist dabei sicherlich nicht immer einfach, aber zu wissen, dass Gott einem den Rücken stützt und stärkt, lässt manches aushalten. Zu wissen, dass man von Gott geliebt ist, bedeutet auch, dass ich nicht zuerst darauf angewiesen bin, von den Leuten geliebt zu werden.

Das Gebot, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, bedeutet dabei auch immer, im Blick zu haben, was passiert, wenn ich das nicht tue, wenn das der andere nicht tut. Dann bin auch ich in der Gefahr, der Nächste zu sein, den man grundlos am Kreuz sehen möchte. Und so ein Shitstorm geht im medialen Zeitalter so schnell und nimmt dabei zuweilen auch eine globale Dimension an.

Diese Verse ermahnen uns, misstrauisch zu werden, wenn jemand ruft:

Lass ihn kreuzigen!

Und sie ermahnen uns, nicht müde zu werden, standhaft nach dem „Warum?“ zu fragen, bevor wir eine Entscheidung treffen und diese in die Tat umsetzen.